Interview mit Taner Avci von Gangway e.V.

gangway team reinickendorf west webTaner Avci arbeitet seit Mai 1998 als Streetworker bei Gangway e.V. in Reinickendorf. Gangway macht Straßensozialarbeit in vielen Berliner Bezirken und ist im AVA-Kiez für das Bolzplatz-Projekt in der Klixarena zuständig.

Taner, wie habt ihr eure Angebote an die aktuellen Einschränkungen durch die Corona-Maßnahmen angepasst?
Wir betreuen in Reinickendorf ca. 500 Jugendlichem in Jugendgruppen und haben für jede Gruppe WhatsApp-Chatgruppen gebildet, mit denen wir Kontakt halten. Die Kontaktbeschränkungen schreiben ja vor, dass die Jugendlichen nur zu zweit oder mit Familienmitgliedern auf der Straße herumlaufen dürfen. Die Online-Beratung machen wir, weil die Jugendlichen Probleme haben, die weiter bearbeitet werden müssen. Wir treffen uns auch mit den Jugendlichen alleine und machen Beratung auf der Straße, mit Mundschutz und Mindestabstand nach den Hygienevorschriften.

Wie kommen die Jugendlichen damit zurecht, dass aktuell kein realer Austausch und keine Treffen stattfinden können?
Das ist eine interessante Frage. Wenn wir in Reinickendorf unsere Rundgänge machen, beobachten wir, dass die Jugendlichen sich gegenseitig kontaktieren, wenn sie uns sehen.
Als wir auf dem Bolzplatz in der Klixarena waren, hat sich beispielsweise ein junger Mann dazugesetzt. Er hat eine Videokonferenz mit mehreren Jugendlichen aus der Gruppe gestartet, so dass wir mit allen reden konnten.
Die Jugendlichen konnten ja immer auf uns zählen. Sie haben uns im öffentlichen Raum getroffen. Jetzt dürfen sie das nicht so, wie sie es vorher durften, und das schränkt sie natürlich ein. Wir arbeiten mit jungen Menschen, die oft aus kinderreichen Familien kommen. Das ist natürlich schwierig, wenn man so eingeengt wird. Wenn man das als junger Mensch nicht kennt, ist das ein bisschen Freiheitsentzug. Die Jugendlichen kommen damit einfach nicht klar. Dann wird Playstation gespielt, etc. Soziale Kontakte können nicht nur über Medien gewährleistet werden. Da fehlt einfach die Empathie, es fehlt der Körperkontakt. Das Gewohnte fehlt. Viele zweifeln auch und wollen zum Beispiel wissen, was mit den MSA-Prüfungen und mit den Ausbildungen ist, die normalerweise Ende August, Anfang September anfangen.
Dazu kommen die beengten Verhältnisse in der Familie. Da hast du deinen Vater, der nicht mehr arbeitet, deine Mutter, deine vier, fünf Geschwister. Oft sind die Wohnräume zu klein und nicht geeignet, dass man sich über so eine lange Zeit darin aufhält. Das ist nicht gesund und beeinflusst die jungen Menschen.

Du meinst, die Auswirkungen der Ausgangsbeschränkungen auf die Psyche?
Junge Menschen und Kinder haben mehr Energie und wissen nicht, wohin damit. Die Eltern sind überfordert, weil sie auf einmal mit den Kindern Hausaufgaben machen und den Lehrer spielen müssen. Viele Eltern kennen das nicht. Man muss das auch können, mit einem Laptop umzugehen und Geduld zu haben. Die meisten Eltern gehen ja gar nicht zu den Elternabenden. Man muss eine Tagesstruktur haben und kontinuierlich dabeibleiben. Das geht die ersten zwei, drei Tage gut, aber danach gibt es schon Schwierigkeiten.

Werden denn Themen wie beispielsweise Einsamkeit von den Jugendlichen konkret benannt?
Das tun sie natürlich in ihrer Sprache, indem sie sich ein bisschen lustig machen: „Jetzt hab‘ ich lange keine Mädels mehr gesehen“ oder „Man kann keine mehr anmachen wegen Corona“. Und „Anfassen und Knutschen mit der Freundin geht sowieso nicht mehr“. Darüber werden Späße gemacht, in denen viele versteckte Nachrichten stecken, wie sie versuchen, diese Zeit zu überwinden.
Die Jugendkultur ist sehr lebhaft und lebt davon, dass die Jugendlichen sich im öffentlichen Raum zeigen und in Bewegung sind. Wenn alle jetzt vor der Glotze hängen, beeinflusst das unsere Arbeit sehr, weil wir Face-to-Face mit Menschen arbeiten und zum Beispiel Knastbesuche machen., zum Arbeitsamt und Jobcenter gehen, zur Schule gehen und dort Gespräche mit den Jugendlichen führen, Aktivitäten wie Fußballspielen durchführen, ins Schwimmbad gehen. Dass das jetzt alles fehlt, ist für jeden Zweig im sozialen Bereich ein großes Problem.

Arbeitet ihr auch mit jugendlichen Geflüchteten?
Wir arbeiten mit Geflüchteten, seitdem sie hier sind. In der Geflüchteten-Unterkunft in Reinickendorf betreuen wir viele Jugendliche und haben auch Kontakt zu den Kollegen und zum Leiter. Gerade machen wir eine Dokumentation zu „30 Jahren Gangway“, in der es um junge Menschen und ihre Lebenslagen geht. Die Arbeit und die Jugendkulturen verändern sich. Dazu machen wir öfter Aktionen, bei denen Jugendliche mitmachen. Heute gehe ich mit einem Kamerateam zu zwei Jugendlichen, um sie zu ihrer persönlichen Situation, nicht arbeiten zu dürfen, zu befragen.

Habt ihr auch Kontakt zu den Familien der Jugendlichen?
Ja, bei Geflüchteten mehr als bei Berliner Jugendlichen, die hier groß geworden sind. Wir arbeiten mit Jugendlichen ab 14 bis etwa 22 Jahren. Manche betreuen wir ein bisschen länger. Wir machen keine Elternarbeit, weil junge Menschen nicht mehr so offen sind, wenn die Familie in ihr privates Leben eingebunden ist. Wir arbeiten auch anonym, aber bei geflüchteten Jugendlichen ist es anders. Die Problemlagen sind komplexer. Meistens können nicht alle die deutsche Sprache, dann übernehmen die Kinder die Übersetzungsaufgaben. Wenn wir eine Familie betreuen, hängt ein ganzes Familienschicksal daran, wenn wir zur Ausländerbehörde gehen. Deswegen machen wir auch Ausnahmen. Aber dann versuchen wir, die Familie aus unserem Arbeitskontext rauszunehmen und übergeben sie an andere soziale Träger, die auf die Arbeit mit Erwachsenen spezialisiert sind. Da versuchen wir, die Vielfalt des Hilfesystems zu nutzen.

Weißt du, wann die Bolzplätze in Reinickendorf wieder öffnen?
Es gibt derzeit noch keinen Termin. Wir wollten eigentlich ein Online-Portal mit Sportaktivitäten machen und das auf dem Bolzplatz drehen. Aber dann besteht die Gefahr, dass wir unsere Jugendlichen animieren, hinzukommen und aktiv teilzunehmen. Da es Bedenken gab, haben wir es zurückgestellt. Nach den neuesten Bestimmungen dürfen wir mit sechs Jugendlichen im öffentlichen Raum Aktivitäten durchführen, wenn bestimmte Richtlinien eingehalten werden. Bei uns sind manchmal bis zu 100 Leute auf dem Platz, da kannst du nicht rumlaufen und sagen: 2m Abstand und Maskenpflicht. Wenn wir das nicht gewährleisten können, machen wir das nicht.

Wie geht es beim Umbau der Klixarena weiter?
Wir arbeiten mit stadt.menschen.berlin und anderen Trägern zusammen. Die Gelder sind bereitgestellt, die Planung steht. Es ist alles startbereit, aber verschiebt sich natürlich nach hinten. Jetzt müssen wir warten, ob das dieses Jahr gemacht oder auf das nächste Jahr verschoben wird.

Die Fragen stellte Claudia Mattern

Gangway e.V.
Team-Büro Reinickendorf
Schluchseestraße 46
13469 Berlin
Telefon: 030 / 40 91 46 49
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Sprechzeit Team West:
Donnerstag 16.00 – 18.00 Uhr

https://gangway.de/teams/reinickendorf/
https://www.instagram.com/gangway_reinickendorf/
Gangway Berlin auf YouTube

Die Dokumentation „Leben trotz Duldung“ anlässlich 30 Jahren Gangway ist auf YouTube zu sehen.

Der Umbau der Klixarena wird mit Mitteln des Quartiersmanagements Auguste-Viktoria-Allee aus dem Programm „Soziale Stadt“ finanziert.




Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.